Betreff
Sachstandsbericht zur Entwicklung der Nachfrage, der Beratungsleistungen und der Hilfen in der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII
Vorlage
210/16
Art
Beschlussvorlage

Beschlussvorschlag/Empfehlung:

 

Der Jugendhilfeausschuss nimmt die Ausführungen zur Kenntnis und beauftragt die Verwaltung, ein Konzept zur konsequenten Umsetzung der qualitativen und quantitativen Herausforderungen im Bereich des § 35a SGB VIII vorzulegen. Dabei sind die möglichen finanziellen Auswirkungen im Rahmen der Haushaltsplanberatungen darzustellen.


Begründung:

 

 

  1. Einleitung:

 

Die Eingliederungshilfen bei einer bestehenden oder drohenden seelischen Behinderung sind, nachdem diese zunächst im neuen KJHG in den erzieherischen Hilfen integriert waren, seit 1993 als eigenständiger Leistungstatbestand im SGB VIII berücksichtigt und verankert.

 

Unter dem § 35a werden die notwendigen Hilfen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft im Jugendamt der Stadt Rheine, dem Beispiel vieler anderer Jugendämter folgend, in spezialisierter Form von eigens dafür fortgebildeten Fachkräften wahrgenommen. Die enorme fachliche Ausrichtung der Diagnostik und Steuerung dieser Eingliederungshilfe rechtfertigt diese Spezialisierung.

 

  1. Leistungssteuerung:

 

Zur Feststellung einer Abweichung von der seelischen Gesundheit muss, als erste Leistungsvoraussetzung, ein medizinisches Gutachten auf der Basis des ICD-10 zur Verfügung stehen. (International Classification of Disease – 10. Auflage)

 

Ferner muss diese psychische Störung in einer kausalen Zusammenhang mit einer Teilhabeeinschränkung am Leben in der Gemeinschaft stehen. Zur Feststellung dieser zweiten Leistungsvoraussetzung finden dazu Einzelgespräche mit den Leistungsberechtigten, dessen Familie und Hospitationen (bspw.) in Schulen statt.

 

In einem dritten Schritt wird dann auf der Basis der zusammengetragenen und bewerteten Ergebnisse eine Entscheidung über eine notwendige und geeignete Eingliederungshilfe bzw. Integrationsmaßnahme getroffen.

 

Eine bewilligte Hilfe wird dann im Rahmen eines auf Eingliederung und Teilhabe gerichteten Hilfeplanverfahrens gesteuert und im Regelfall von einem auf die Eingliederungshilfe spezialisierten Träger (bspw. die Autismusambulanz) für einen notwendigen Zeitraum umgesetzt.

 

Ein im Gegensatz zu den Hilfen zur Erziehung hoher Anteil an Widersprüchen und verwaltungsgerichtlichen Auseinandersetzungen ist ein weiterer Beleg für die Notwendigkeit einer Spezialisierung in diesem Hilfebereich.

Zur Diagnostik, Entscheidung und Steuerung einer Eingliederungshilfe sind demnach Kompetenzen in folgenden Bereichen zwingend erforderlich:

- medizinische / therapeutische für die Diagnostik

- sozialpädagogisch / fachliche zur Beurteilung einer Teilhabeeinschränkung

- eingliederungsfachliche zur Steuerung der Hilfen

- rechtlich / fachliche zur Klärung von Leistungsvoraussetzungen

 

 

  1. Entwicklung der Leistungen im § 35a SGB VIII

 

Seit dem 2. Quartal 2014 nehmen zwei Fachkräfte im Sozialen Dienst des Jugendamtes (Produkt 2101 – Förderung junger Menschen und Familien) in einem Umfang von 0,65 Vollzeitäquivalenten (VZÄ) die Aufgaben in der Eingliederungshilfe nach § 35a wahr. Diese Stellenanteile waren im Rahmen von aufwendungsneutralen Umorganisationsmaßnahmen im Sozialen Dienst bereitgestellt worden.

 

In den Jahren davor waren die Aufgaben „nichtspezialisiert“ von allen Fachkräften des Sozialen Dienstes miterbracht worden.

 

Ausgangswert einer Stellenbemessung zum Zeitpunkt der Umorganisation waren die Fallzahlen aus 2013. Danach waren in dem Jahr 27 Fälle an laufenden ambulanten und stationären Eingliederungshilfen ausgewertet worden.

 

Im ersten Jahr nach der Spezialisierung konnte zunächst eine Stagnation der Fallzahlen der Eingliederungshilfen festgestellt werden.

 

Über die spezialisierte Aufgabenwahrnehmung konnte aber auch in Erfahrung gebracht werden, dass die zeitlichen Aufwendungen in diesem Arbeitsbereich sachgerecht nicht nur an den bewilligten Hilfen festgemacht werden können.

 

Weitere andere wichtige Prozessschritte in der Sachbearbeitung, wie bspw.

eine qualifizierte Erstberatung, der umfangreiche Diagnostikprozess und die Verfassung einer rechtssicheren Entscheidung über eine beantragte Eingliederungshilfe, sind wichtige und zum Teil zeitlich umfangreiche Teilprozesse, die bei einer reinen Bemessung über laufende Fälle außer Acht bleiben würden.

 

 

  1. Möglichkeit der Stellenbemessung und Beschreibung der „Istsituation“

 

Zur Klärung eines notwendigen Sachbearbeitungsaufwandes im Arbeitsbereich der Eingliederungshilfe wurden mit den Fachkräften auf der Basis der Personalbemessungsmethodik in Bayern des Instituts INSO (PeB – Personalbemessung in Bayern) die einzelnen notwendigen Teilprozessschritte qualitativ herausgearbeitet, mit mittleren Bearbeitungszeiten errechnet und die jeweiligen Arbeitsmengen erfasst. Diese Methodik der Stellenbemessung ist deshalb gewählt worden, weil sie fachlich anerkannt ist und die Möglichkeit bietet, dass definierte qualitative Elemente von Arbeitsleistungen mit quantitativen Aspekten in einer Stellenbemessung kombiniert werden.

In dem intern vereinbarten Untersuchungszeitraum von einem Jahr konnte unter der Berücksichtigung der vorhandenen 0,65 VZÄ folgendes Ergebnis herausgearbeitet werden:

Aufgrund des vorher ausgegebenen Ziels von Leitung und den Fachkräften konnte zwar zusätzlich

-      das neue Angebot einer Erstberatung entwickelt und aufgenommen werden,

-      die Diagnostik und Fallentscheidung umfangreicher und rechtssicherer umgesetzt werden,

-      aber in Ermangelung real vorhandener Zeitressourcen konnte eine Hilfeplanung und Steuerung der Hilfen nicht in dem erforderlichen Umfang realisiert werden.

-      Damit erfolgten keine dezidierte Zielsteuerung einer Eingliederungshilfe und

-      auch keine konsequente „Austeuerung“ einer erfolgreichen Hilfe nach der Erreichung der individuellen Eingliederungszielsetzung.

 

  1. Weitere Entwicklung

 

Wie derzeit bundesweite Prognosen darlegen (Pothmann u. a. in komDat Jugendhilfe), steigt seit einigen Jahren die Nachfrage nach Leistungen der Eingliederungshilfe doppelt so stark an wie die der Hilfen zur Erziehung.

Kommt eine Personalbewirtschaftung in dem Spezialgebiet der Eingliederungshilfe diesem Trend nicht nach, werden sich die Konsequenzen deutlich im Rahmen der Steigerungen bei den Transferaufwendungen zeigen.

Folgende Grafik 1 stellt diesen Trend nachvollziehbar dar. Die Fallanfragen und Neuanträge steigen demnach auch in Rheine weiter an. Die im Rahmen des Bundestrends liegenden Nachfragesteigerungen sind aber managementbedingt nicht beeinflussbar.

Mit einer Fortsetzung einer eher reduziert wahrgenommener Steuerungsaufwendungen in der Hilfeplanung und eine geringe erfolgreiche Fallabschlussquote führt in der Konsequenz zu einer prognostizierten weiteren Steigerung der laufenden ambulanten und stationäre Hilfen.

 

Um eine alternative Entwicklung mit reduzierten Transferaufwendungen und erfolgreicheren Fallverläufen erreichen zu können, ist eine Intensivierung und Verbesserung der Prozesssteuerung das Mittel der Wahl.

Erstens ist über einen Ausbau der Beratungsleistungen eine Trennung der Entwicklung von Anfrage und Neuantrag zu erreichen. Denn durch eine intensivierte Beratung können Eltern und Leistungsberechtigte über die Leistungsvoraussetzungen und alternative Hilfen informiert werden. Liegen bspw. Leistungsvoraussetzungen offensichtlich nicht vor, wird auch keine Antragstellung erfolgen.

Zweitens können durch eine Intensivierung der Hilfesteuerung Hilfen erfolgreicher und zielgerichteter gesteuert und in kürzerer Zeit abgeschlossen werden. So lassen sich die Anzahl der Beendigungen erhöhen und die Anzahl der laufenden Hilfen reduzieren bzw. eine prognostizierte Steigerung deutlich abfedern.

 

Die finanziellen Aufwendungen für den Leistungsbereich der Eingliederungshilfe nach § 35a liegen insgesamt bei über 500.000,-€. Die Aufwendungen je Einzelfall, ob stationäre Hilfen in der Heimerziehung, Integrationshelfer an Schulen, Leistungen der Autismusambulanz oder Förderungen bei Dyskalkulie oder Dyslexie variieren von einigen 1000,-€ bis zu über 50.000,-€ im Jahr.

 

Eine Veränderung der Anzahl an laufenden Hilfen um 20% hat demnach eine deutliche Auswirkung auf die weitere Entwicklung der Transferleistungen in diesem Bereich, sodass sich eine Modifizierung der personellen Besetzung nicht nur aus qualitativen und fachlichen Gesichtspunkten, sondern auch aus finanzieller Hinsicht auf Dauer rechnet.

 

Daher schlägt die Verwaltung vor auf der Basis der intern über einen Zeitraum von einem Jahr praktizierten Auswertung der Prozesssteuerung nach dem Modell der Personalbemessung in Bayern (PeB) die notwendigen Prozessschritte komplett qualitativ zu übernehmen und den Personalbedarf für die Aufgabenwahrnehmung in der Eingliederungshilfe ab 2017 zu ermitteln und ggfs. zunächst für einen weiteren Beurteilungszeitraum von 2 Jahren zu erhöhen.

 

Nach Ablauf dieser Zeit wird die Verwaltung unaufgefordert über die Entwicklung und die Steuerungseffekte im Jugendhilfeausschuss berichten.