Beschlussvorschlag/Empfehlung:

 

Der Jugendhilfeausschuss nimmt die Ausführungen zu den Auswirkungen des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) auf die Kindertagesbetreuung zur Kenntnis.

 


Begründung:

 

Historie

Die UN-Behindertenrechtskonvention fordert die Staaten auf, die Teilhabe aller Menschen zu ermöglichen. Für die Umsetzung dieses Ziels wurde in Deutschland u.a. das Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (kurz: Bundesteilhabegesetz, BTHG) entwickelt. Dies ist als Artikelgesetz verfasst, sodass die vereinbarten Inhalte sukzessive zu Veränderungen in bestehenden Gesetzen führen.

 

Seit dem 01.01.2017 wird das Bundesteilhabegesetz in insgesamt vier Reformstufen umgesetzt. Zum 01.01.2020 wird die dritte Reformstufe, die die Eingliederungshilfe betrifft, umgesetzt. Unter die Eingliederungshilfe fällt auch die Betreuung von Kindern mit Behinderung in der Kindertagesbetreuung.

 

Grundsätzlich ist das Ziel, den Menschen eine selbstbestimmte und selbstständige Teilhabe zu ermöglichen, sowie mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten zu bieten. Hierbei wird der Grundsatz der personenzentrierten Hilfe verfolgt, sodass nicht Finanzierungen von Einrichtungen erfolgen, sondern Finanzierungen von Leistungsansprüchen einzelner Personen. Zudem soll das Fallmanagement aus einer Hand geschehen, damit die Personen nicht wie bisher an mehreren Stellen Leistungsansprüche erheben müssen.

 

Entsprechend des Ausführungsgesetzes zum SGB IX NRW sind die Landschaftsverbände Westfalen-Lippe (LWL) und Rheinland (LVR) Träger der Eingliederungshilfe und somit mit der Umsetzung beauftragt.

Hierfür wurde ein Landesrahmenvertrag nach §131 SGB IX zwischen den Landschaftsverbänden und der Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege NRW geschlossen (Link zum Landesrahmenvertrag https://www.lwl-inklusionsamt-soziale-teilhabe.de/de/landesrahmenvertrag/lrv-131-sgb-ix/ ).

Dieser Vertrag regelt die inhaltliche Ausgestaltung der Eingliederungshilfe ab 01.01.2020.

 

Leistungsberechtigte Personen sind demnach, Personen mit körperlichen-, seelischen-, geistigen- oder Sinnesbeeinträchtigung (siehe § 2 Abs. 1 SGB IX).[1]

Welche Leistungen und Rahmenbedingungen für diese Personen bestehen, wird in den Anlagen zum Landesrahmenvertrag, als Rahmenleistungsbeschreibung, aufgeführt.

 

Art und Umfang der Leistungen

In den Rahmenleistungsbeschreibungen wird grundsätzlich formuliert: „Heilpädagogische Leistungen umfassen alle Maßnahmen, die zur Entwicklung des Kindes und zur Entfaltung seiner Persönlichkeit beitragen, einschließlich der jeweils erforderlichen nichtärztlichen therapeutischen, psychologischen, sonderpädagogischen und psychosozialen Leistungen und der Beratung der Erziehungsberechtigten.“[2]

Diese Leistungen können dann in der inklusiven Kita, in der heilpädagogischen Kita, in der Frühförderung oder in der Kindertagespflege erbracht werden.

 

Da im Fokus dieser Vorlage die Auswirkung des BTHG auf die Kindertageseinrichtungen steht, wird im Weiteren nur auf diese Leistungsbeschreibung Bezug genommen.

 

In der Leistungsbeschreibung wird formuliert, dass die heilpädagogischen Leistungen, wie bisher auch schon, auf die Regelleistungen der Kindertageinrichtungen aufsetzen. Damit bleibt die Finanzierung zum einen Teil aus KiBiz-Mitteln und zum anderen Teil aus LWL-Mitteln bestehen. 

 

Zukünftig wird der LWL seine zusätzlichen Mittel als „Basisleistung I“ bezeichnen.

 

„Die Basisleistung I umfasst folgende Leistungen und strukturelle Anforderungen:

·         einen verbesserten Betreuungsschlüssel

·         Erstellung einer inklusionspädagogischen Konzeption und deren regelmäßige Fortschreibung

·         Erstellung und Fortführung einer ICF-orientierten Förder- und Teilhabeplanung

·         Fachberatung

·         Fortbildung und Supervision (z. B. zur Aneignung eines heilpädagogischen

·         Grundwissens)

·         Verwaltungsanteil für Organisation

·         Fallmanagement

·         Beratungsleistung für Therapie

·         Zugang zur Leistung (Fahrdienst) unter Einbeziehung von behinderungsbedingten Erfordernissen und von Kontextfaktoren“[3]

 

Wie bisher sind zur Erfüllung dieser Leistungen zwei Modelle möglich,

a)      die Gruppenstärkenabsenkung: Pro Kind mit Behinderung wird die Gruppenstärke um einen Platz abgesenkt oder

b)      die Zusatzkraft: Pro Kind mit Behinderung werden bestimmte Fachkraftstunden angerechnet.

Welches Modell gewählt wird kann der Träger bzw. die jeweilige Kita selbst entscheiden.

In Rheine nutzten alle Träger das Modell b) und beschäftigen eine Zusatzkraft.

 

Finanzierung

Wie oben aufgeführt erfolgt die Finanzierung wie bisher mit der 3,5-fachen KiBiz-Pauschale zzgl. der LWL Pauschale – ab 2020 Basisleistung I genannt.

 

Entsprechend des Landesrahmenvertrages wird die Finanzierung dieser Basisleistung I ausgeweitet. Bisher wurden nur Fachkraftstunden für bis zu 4 Kinder pro Einrichtung finanziert. Die freien Träger erhalten zusätzlich zu den KiBiz Mitteln derzeit folgende finanzielle Unterstützung

·         Für ein Kind                17.004€

·         Für zwei Kinder          19.104€

·         Für drei Kinder           24.948€

·         Für vier Kinder           25.728€

 

Jedes weitere Kind mit Behinderung in der Kita wird derzeit vom LWL nicht zusätzlich gefördert. Dies ändert sich zukünftig, sodass jedes Kind mit Behinderung auch eine Finanzierung hinterlegt hat.

 

Beispiel: Finanzierung einer Zusatzkraft mit der Basisleistung I

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Diese Veränderungen werden nicht schon am 01.01.2020 in Kraft treten, sondern erst mit Beginn des neuen Kindergartenjahres am 01.08.2020.

 

Die Basisleistung I führt somit zu einer besseren finanziellen Ausstattung der Kitas. Allerdings müssen die Träger für diese Personalstunden auch entsprechende Fachkräfte finden.

 

 

Besonderheiten der heilpädagogischen Kitas

Im Landesrahmenvertrag gibt es keine direkten Ausführungen für die erhöhten Leistungen und Rahmenbedingungen einer heilpädagogischen oder additiven Einrichtung. Der LWL formuliert jedoch, dass es Gespräche und Entwicklungen gibt, diese Systeme mit einer Basisleistung II zu finanzieren. Eine konkrete Ausgestaltung dieser Basisleistung II gibt es bisher nicht.

 

Die Finanzierung der heilpädagogischen Kitas soll bis 2021 wie bisher bestehen bleiben, danach soll ein sukzessiver Prozess der Weiterentwicklung bis 2026 erfolgen. Für die unterschiedlichen Einrichtungsarten (rein heilpädagogisch, additiv, kombiniert etc.) sollen in dieser Zeit Leistungsbeschreibungen und Finanzierungssysteme entwickelt werden.

 

Diese wagen Aussagen der möglichen Veränderungen haben bereits zu einigen Gesprächen und Positionspapieren geführt.

Der Caritasverband Rheine ist als örtlicher Träger einer additiven Kindertagesstätte in Rheine direkt von den Auswirkungen betroffen und hat zusammen mit anderen Trägern in der „Arbeitsgemeinschaft Kath. Einrichtungen und Dienste der Behindertenhilfe im Caritasverband für die Diözese Münster“ ein Eckpunktepapier zu den Auswirkungen erstellt. Dieses Eckpunktepapier ist als Anlage beigefügt.

 

 

Ist-Stand der Betreuung von Kindern mit Behinderung in Rheine

 

Von den geschilderten Veränderungen sind in Rheine fast alle Kitas betroffen; sowohl die inklusiv arbeitenden Kitas als auch der additive Dreikönigs-Kindergarten. Insgesamt werden  158 Kinder mit Behinderung betreut (Stand: 18.11.2019). Diese Anzahl der Kinder ist seit 2016 nahezu gleichbleibend mit leicht steigender Tendenz.

 

 

Inklusive Kitas

 

Von den 38 Kitas, die inklusive Erziehung anbieten, betreuten im November 2019

·         27 Einrichtungen bis zu 3 Kinder, die dem Personenkreis §53 SGB XII zuzuordnen sind.

·         8 Einrichtungen bis zu 5 Kinder, die dem Personenkreis §53 SGB XII zuzuordnen sind.

·         3 Einrichtungen mehr als 5 Kinder, die dem Personenkreis §53 SGB XII zuzuordnen sind.

 

Zum Vergleich: Im April 2017 boten 31 Kitas eine inklusive Betreuung an. Hierbei haben

·         15 Einrichtungen bis zu 3 Kinder, die dem Personenkreis §53 SGB XII zuzuordnen sind, betreut.

·         10 Einrichtungen bis zu 5 Kinder, die dem Personenkreis §53 SGB XII zuzuordnen sind,  betreut.

·         6 Einrichtungen mehr als 5 Kinder, die dem Personenkreis §53 SGB XII zuzuordnen, sind betreut.

 

 

Additive Kita

In der additiven Kita stehen neben den 32 Plätzen für Regelkinder (KiBiz) 46 Plätze für Kinder mit Behinderung zur Verfügung.

 

Die Auslastung dieser heilpädagogischen Plätze war in den letzten Jahren wie folgt:

 

Plätze für Kinder mit Behinderungen

Kindergartenjahr

14/15

15/16

16/17

17/18

18/19

19/20

Kinder aus Rheine

41

44

42

42

41

34

Kinder aus dem Kreis Steinfurt

7

4

5

6

7

14

andere

1

1

0

1

1

1

gesamt

49

49

47

49

49

49

 

Es wird ersichtlich, dass seit Jahren eine Überbelegung mit 3 Plätzen die Regel ist.

 

Ein Grund für die hohe Nachfrage sind die Kinder, die aus unterschiedlichen Gründen aus einer inklusiven Förderung in der Kita in die additiven Kita wechseln.


 

Die folgende Tabelle zeigt die Kinder, die aus inklusiven Kitas in die heilpädagogische Kita gewechselt haben:

 

Wechselkinder 

Kindergartenjahr

14/15

15/16

16/17

17/18

18/19

19/20

Kinder aus Rheine

11

4

0

8

6

6

Kinder aus dem Kreis Steinfurt

3

0

1

3

2

5

andere

0

0

0

0

0

0

gesamt

14

4

1

11

8

11

 

 

Auswirkungen auf die Kitas in Rheine:

 

Der Bedarf der inklusiven und heilpädagogischen Betreuung ist in Rheine seit Jahren gleichbleibend hoch.

 

Die Kinder mit Behinderungen haben dabei ganz unterschiedliche Diagnosen. Diese reichen von globalen Entwicklungsverzögerungen, Sprachdefiziten, Schwermehrfachbehinderungen, sozial-emotionalen Entwicklungsverzögerungen bis hin zum Autismus. Die damit verbundenen Bedarfe der Kinder sind ebenso vielfältig und können, wie oben aufgeführt, vielfach in einer inklusiven Kita mit zusätzlichen Personalstunden gedeckt werden. In anderen Fällen machen die Bedarfe der Kinder ein spezielles Setting erforderlich, welches in einer heilpädagogischen Einrichtung durch kleine Gruppen (max. 8 Kinder) und festangestellte Therapeuten erfüllt werden kann. Aktuell können trotz dieses ausdifferenzierten Systems nicht alle Kinder entsprechend ihrer Bedarfe betreut werden. In drei Fällen (Stand: 18.11.2019) kann Kindern derzeit keine Kindertagesbetreuung angeboten werden, weil die erheblichen Bedarfe der Kinder mit den vorhandenen Ressourcen nicht gedeckt werden können.

Insgesamt zeichnet sich über die letzten Jahre die Tendenz ab, dass die Kinder umfassende Bedarfe haben. Vor ein paar Jahren wurden noch Kinder mit leichten Sprachauffälligkeiten inklusiv gefördert. Heute haben diese Kinder Förderbedarfe in mehreren Bereichen und selten nur noch eine Auffälligkeit.

 

Die Praxis zeigt bereits jetzt, dass Kinder mit erhöhten Förderbedarfen die heilpädagogische Kita besuchen oder von der inklusiven Kita in diese wechseln. Dies führt dazu, dass in der heilpädagogischen Kita vermehrt „nur noch“ Kinder mit erhöhten Förderbedarfen betreut werden.

 

Besonders für die heilpädagogischen Kitas fehlt eine Planungssicherheit für die nächsten Jahre. Ein sukzessiver Prozess, der Finanzierungsveränderungen betrifft, schürt Sorge und Unsicherheit hinsichtlich der erarbeiteten Qualitätsstandards und Rahmenbedingungen. Es entsteht die Frage, mit welchen personellen, sachlichen und räumlichen Ressourcen diese Kitas auf Dauer arbeiten werden. Zudem steht die Frage im Raum, wie mit den hohen Förderbedarfen der Kinder adäquat umgegangen werden kann.

 

Des Weiteren stellt sich die Frage, wie in Zukunft zwischen der Basisleistung I und II unterschieden wird und wodurch eine Einrichtungsgrenze (inklusive vs. heilpädagogische Kita) gezogen wird. Können Kinder, denen die Basisleistung II zugesprochen wird, nur in heilpädagogischen Kitas oder auch in inklusiven Kitas betreut werden?


 

 

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Grundidee des BTHG zur Verbesserung der Teilhabe von Kindern mit Behinderungen führen kann. Allerdings sind die Auswirkungen, was dieses für die Betreuung der Kinder und der Arbeit der heilpädagogischen Einrichtungen angeht nicht klar. Dies führt zu vielen Unsicherheiten und einer fehlenden Planungssicherheit.

 

 



[1] Landesrahmenvertrag nach §131 SGB IX NRW (2019) Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX für Menschen mit Behinderungen. S. 6. Online: https://www.lwl.org/spur-download/rahmenvertrag/0-2%20LRV%20SGB%20IX_Gesamtext_190723.pdf (Zugriff: 28.11.2019)

[2] Rahmenvertrag nach § 131 SGB IX Nordrhein-Westfalen (2019) Rahmenleistungsbeschreibung Anlage A.2  S. 1. Online: https://www.lwl.org/spur-download/rahmenvertrag/Anlage_A_02_01_RLB_Kitas_1900614.pdf (Zugriff 29.11.2019)

[3] Rahmenvertrag nach § 131 SGB IX Nordrhein-Westfalen (2019) Rahmenleistungsbeschreibung Anlage A.2  S. 2-3 Online: https://www.lwl.org/spur-download/rahmenvertrag/Anlage_A_02_01_RLB_Kitas_1900614.pdf (Zugriff 29.11.2019)


Anlage:

 

Eckpunktepapier der „Arbeitsgemeinschaft Kath. Einrichtungen und Dienste der Behindertenhilfe im Caritasverband für die Diözese Münster“