Betreff
Empfehlungen der Landesjugendämter in NRW zum Kinderschutz - Strukturelle Auswirkungen für die Organisation der Sozialen Dienste im Jugendamt
Vorlage
330/21
Art
Beschlussvorlage

Beschlussvorschlag/Empfehlung:

 

1.      Der Jugendhilfeausschuss beschließt die Anwendung der gemeinsamen Empfehlungen für Jugendämter der beiden Landesjugendämter Westfalen und Rheinland

·         Gelingensfaktoren bei der Wahrnehmung des Schutzauftrages gemäß § 8a SGB VIII

·         Grundsätze und Maßstäbe zur Bewertung der Qualität einer insoweit erfahrenen Fachkraft

 

2.      Die Verwaltung wird beauftragt, die notwendigen Schritte zur Umsetzung der Empfehlungen umgehend zu realisieren und die für eine dauerhafte Sicherstellung der notwendigen personellen und sachlichen Ressourcen in die Etatberatungen für 2022 einzubringen.

 


Begründung:

 

Als eine Konsequenz aus den Erfahrungen im „Fall Lüdge“ hatte das MKFFI des Landes NRW das „Impulspapier zur Diskussion über Maßnahmen zur Prävention, zum Schutz vor und Hilfe bei sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche“ erstellt. Unter Punkt 3.1 dieses Landesimpulspapiers war eine Vereinbarung zwischen den Landesjugendämtern und den kommunalen Spitzenverbänden für einen verbesserten Kinderschutz fixiert worden. Diese Vereinbarung ist von beiden Partnern aufgegriffen worden. In der Folge sind die bereits seit einigen Jahren bestehenden fachlichen Orientierungshilfen der Landesjugendämter im Sinne des § 85 Abs. 2 Nr. 1 SGB VIII als Empfehlungen für die örtlichen Jugendämter zur Wahrnehmung dieser Aufgabe publiziert worden.

 

Die Landesjugendhilfeausschüsse Westfalen und Rheinland haben diese Empfehlungen im September 2020 beschlossen. Beide Ausschüsse haben ihre Beschlüsse mit der zusätzlichen Empfehlung verbunden, die beiden Empfehlungen auch in den örtlichen Jugendhilfeausschüssen als Grundlage der Arbeit der Jugendämter beschließen zu lassen. Damit könne erst sichergestellt werden, dass Sorgeberechtigte, Kinder und Jugendliche in allen Regionen Nordrhein-Westfalens auf vergleichbare Qualitätsmerkmale in der Arbeit im Kinderschutz vertrauen können.

 

Kein Veränderungs- oder Modifizierungsbedarf:

 

Das Jugendamt Rheine verfügt seit dem 01.01.2015 über eine Dienstanweisung zum Kinderschutz und regelt damit die internen Prozesse, den Qualitätsstandard und die notwendigen Dokumentationen im und um den Kinderschutz. In 2016 wurde die Dienstanweisung intern, sowie in Zusammenarbeit mit externen Kooperationspartnern (bspw. dem Familiengericht) evaluiert.

 

Ferner verfügt das Jugendamt Rheine über unterschiedliche Kooperationsvereinbarungen mit Trägern der Jugendhilfe und Institutionen aus anderen Rechtskreisen, die u. a. Regelungen an der Schnittstelle zum Kinderschutz beinhalten. Im Besonderen sind hier die Vereinbarungen mit den Trägern der Jugendhilfe zu nennen, wie auch die Vereinbarung der Jugendämter im Kreis Steinfurt mit der Schulaufsicht für den Kreis Steinfurt. Mittels dieser Vereinbarungen kann eine eindeutige und zielführende Zusammenarbeit sichergestellt werden in Fällen der Wahrnehmung gewichtiger Anhaltspunkte von Gefährdungen von Kindern und Jugendlichen.

 

Zu den üblichen Arbeitszeiten der Verwaltung werden eingehende Krisenfälle oder Kinderschutzfälle von den pädagogischen Fachkräften der beiden Dienste im Jugendamt, 2102-1 als Allgemeiner Sozialer Dienst und 2101-2 Spezialdienste, im Rahmen eines internen Krisendienstes aufgenommen, eingeschätzt und bearbeitet. Abends, an den Wochenenden und an Feiertagen regelt ein gemeinsamer Vertrag aller Jugendämter im Kreis Steinfurt mit der evangelischen Jugendhilfe die Bereithaltung eines externen Krisendienstes, der in Notfällen aktiviert und in den Familien tätig werden kann.

 

In den Fallkonstellationen, in denen nach einer festgestellten Gefährdung in Zusammenarbeit mit den Eltern ein wirksamer Schutz der Kinder nicht gewährleistet werden kann, besteht die Möglichkeit und Pflicht Kinder zum Schutz in die Obhut des Jugendamtes zu nehmen. Für das Jugendamt Rheine stehen dazu neben den intern vorgehaltenen Bereitschaftspflegefamilien des Jugendamtes Schutzangebote der evangelischen Jugendhilfe zu Verfügung, in denen Kinder an sicheren Orten geschützt und betreut werden.

In Hörstel befindet sich die klassische Jugendschutzstelle als Gruppenangebot für die älteren Kinder und Jugendlichen. In Steinfurt wird derzeit noch die Kinderschutzstelle betrieben, die in der nächsten Zeit nach Ibbenbüren verlagert wird. Über den gesamten Kreis Steinfurt verteilt befinden sich darüber hinaus unterschiedliche Bereitschaftspflegefamilien, die für das Jugendamt Rheine kleinere Kinder aufnehmen, wenn die eigene Bereitschaftsfamilie keine Aufnahmekapazitäten haben.

Zur Sicherstellung dieser Schutzangebote haben die 5 Jugendämter im Kreis Steinfurt mit dem Träger evangelische Jugendhilfe eine mittelfristige vertragliche Vereinbarung geschlossen, die seit Jahren fortgeschrieben wird. 

 

Die Aufgaben der Beratung durch insoweit erfahrene Fachkräfte für Berufsgeheimnisträger und Beschäftigte von Trägern der Jugendhilfe werden in Delegation des Jugendamtes von ausgebildeten Fachkräften der Erziehungsberatungsstelle des Caritasverbandes und dem Kinderschutzzentrum des Kinderschutzbundes, Ortsverband Rheine, wahrgenommen. In einem aktuellen Qualitätsdialog zwischen beiden Trägern und dem Jugendamt ist festgehalten worden, dass die fachlichen Standards der neuen Empfehlungen auch bereits in der Vergangenheit umgesetzt worden sind. Konkrete direkte Anpassungen seien demnach aufgrund der neuen Empfehlungen nicht notwendig. 

 

Beide aktuellen Empfehlungen sind Überarbeitungen der bisherigen Orientierungshilfen der Landesjugendämter. Das Jugendamt Rheine hatte bereits in der Vergangenheit diesen Orientierungshilfen viel Aufmerksamkeit geschenkt und fachlich an einer konsequenten Umsetzung gearbeitet, so dass die Aufgaben des Kinderschutzes aktuell priorisiert, umfassend und fachlich in guter Qualität umgesetzt werden.

 

Dennoch können die neuen Empfehlungen nicht nur als Fortsetzung einer bislang guten Arbeit im Kinderschutz verstanden werden. Insbesondere beinhalten die neuen Empfehlungen Qualitätsstandards zu strukturellen Rahmenbedingungen der Allgemeinen Sozialen Dienste in den Jugendämtern.

 

 

Modifizierungs- und Handlungsbedarfe:

Für das Jugendamt Rheine bestehen vor dem Hintergrund der Empfehlungen Handlungsbedarfe in den nachfolgend aufgeführten Bereichen:

 

 

1.      Quantitative Personalausstattung

In den Empfehlungen wird auf Seite 60 ausgeführt, dass in den vergangenen Jahren unterschiedliche Fallbelastungsberechnungen in den Kommunen angewendet worden waren. Nach einem Richtwert der GPA (Gemeindeprüfung) sei eine Fallzahlenbelastung von 1:30 Fällen als empirische Personalbemessung angezeigt.

Als Berechnungsmodell der Zukunft werden analytische Personalbemessungen auf der Basis von definierten Kern- und Teilprozessschritten benannt.

Angesicht der permanenten Stellenvakanzen, Einarbeitungen und sonstiger Lücken der Personalressource wird eine überplanmäßige Besetzung von 115 % postuliert, um sicher eine 100-prozentige Besetzung und damit eine vertretbare Arbeitsbelastung zu gewährleisten.

Für das Jugendamt Rheine sind für den Allgemeinen Sozialen Dienst aktuell gut 7 Stellen im Stellenplan abgesichert. 2 weitere Stellen sind derzeit aufgrund der Fallbelastung und der personellen Bedarfe ohne Stellenplanabsicherung zusätzlich im ASD im Einsatz. Diese werden teilweise aus Mitteln „Lohnfortzahlung im Krankheitsfall“ der jeweiligen Krankenkasse refinanziert.

 

Rechnet man die derzeitigen hilfeplangesteuerten Hilfen als Berechnungsreferenz, ergänzt diese Fallzahlengröße um die notwendigen Koordinierungsstellenanteile (je 0,2 VZÄ pro Team) und addiert 15 % zur Sicherstellung der 100-prozentigen Besetzung, ergeben sich in 2021 9 Stellen, die im zukünftigen Stellenplan abgesichert werden müssten, und damit ein Plus von 2 Stellen!

 

In 2021 wird derzeit ein Upgrade des Geschäftsstatistikprogramms der Prosoz mit dem Namen OpenWebFm implementiert. Dieses Programm bietet in der Zukunft die Möglichkeit von der empirischen Personalbemessung in eine analytische Bemessung langfristig umzusteigen und den Stellenbedarf individueller und genauer begleitend zu ermitteln.

[In der Neufassung des § 79 aus der SGB VIII Reform wird zudem ausgeführt, dass der öffentliche Träger der Jugendhilfe ein Verfahren zur Personalbemessung zu nutzen hat.]

 

2.      Qualifikation der Fach-, Koordinierungs- und Leitungskräfte

Aufgrund der Empfehlungen ergeben sich nicht nur grundlegende, einmalige Fortbildungskosten für die Qualifizierung als Fachkräfte des Kinderschutzes, sondern auch Aufwendungen für eine Einführung von verstetigten, regelmäßigen Weiterbildungen, um das Qualifikationsniveau zu erhalten.

Hier entstehen höhere Aufwendungen für Fort- und Weiterbildungen, sowie zeitliche Ressourcen für die teilnehmenden Fach- und Leitungskräfte.

 

3.      Aufbauorganisation in den sozialen Diensten des Jugendamtes

Die Leitungskräfte in den sozialen Diensten bedürfen zur Sicherstellung ihre Leitungsaufgaben ausreichende und spezialisierte Weiterbildungen und ein umsetzbares Verhältnis zwischen Leitungskraft und Fachkraft. Bereits seit 2 Jahren hat das Jugendamt von einem Verhältnis von 1:35 auf 1:15/20 umorganisiert.

Nach einer sozialwissenschaftlichen Untersuchung der GEBIT Münster im Rahmen des IB-NRW Vergleichsrings, in dem die Stadt Rheine Mitglied ist, ist eine Wechselwirkung zwischen dem Leitungs-Fachkraft-Verhältnis und Fall- bzw. Kostensteigerungen belegbar. Daher sollte nicht kurzsichtig an der notwendigen internen Aufbauorganisation gespart werden und steigende Transferaufwendungen provoziert werden.

 

4.      Einarbeitungskonzept

Nach internen Recherchen zur Vorbereitung auf die Vorlage sind in den vergangenen 5,5 Jahren über 20 Personalnachbesetzungen in den Sozialen Diensten im Jugendamt Rheine umgesetzt worden. D. h. 4 - 5 Nachbesetzungen pro Jahr waren mit individuellen Einarbeitungen und Einführungen in die Dienstleistungen und die Aufgabenerledigung vor Ort notwendig.

Aktuell stehen diesen neuen Fachkräften ein Einarbeitungsordner, auskunftsbereite Kolleginnen und Kollegen und im Regelfall eine feste Ansprechperson zur Verfügung.

Hier sieht das Jugendamt Rheine noch weiteren Nachbesserungsbedarf, um den Prozess der Einarbeitung noch erfolgreicher zu gestalten. Dazu soll eigens ein Einarbeitungskonzept mit Berücksichtigung entsprechender Ressourcen erstellt und implementiert werden.  

 

5.      Nachwuchsgewinnung und -ausbildung

Seit nunmehr 2 Jahren bildet die Stadt Rheine in Zusammenarbeit mit der Fachhochschule Hamm im Rahmen eines dualen 3-jährigen Studiums Fachkräfte der Sozialen Arbeit (Bachelor of Arts) aus.

Hintergrund dieser Initiative war die Tatsache, dass mehrere ältere Fachkräfte zu Beginn dieses Jahrzehnts aus dem Dienst in den Ruhestand ausscheiden werden. Zunächst sollte diese Initiative eine Ergänzung zur externen Stellenakquise sein.

Da sich zwischenzeitlich die Situation auf dem Arbeitsmarkt für Sozialfachkräfte deutlich verändert hat, wird es als notwendig angesehen, regelmäßig eigene Fachkräfte im Rahmen eines dualen Studiums gezielt für die eigenen Einsatzgebiete auszubilden und an den Arbeitsgeber Stadt Rheine zu binden.

In diesem Fall entstehen Personal- und Ausbildungssachkosten in vergleichbarer Höhe wie bei den Bachelor of Laws.

 

6.      Internes Beschwerdemanagement

Das Jugendamt Rheine ist Mitglied im Verein Ombudschaft Jugendhilfe im Kreis Steinfurt e. V. Damit verfügt das Jugendamt über eine gute externe Struktur eines Beschwerdewesens.

Interne Beschwerden erreichen grundsätzlich das Jugendamt und werden stets ernstgenommen und bearbeitet. Ein entsprechendes Beschwerdekonzept oder ausgewiesene Beschwerdeansprechpersonen, wie diese bspw. im Jugendamt Bochum etabliert sind, müssen hingegen noch entwickelt und verstetigt werden.

Bevor für diesen Bereich Aufwendungen kalkuliert werden können, müssen zunächst konzeptionelle Papiere dazu erstellt und verabschiedet werden. 

 

7.      Fallanalysen und Evaluierungsprozesse

In den Empfehlungen wird den Jugendämtern zwingend angeraten regelmäßig auch außerhalb der Krisenfallbearbeitung Fallanalysen durchzuführen, sowie die Ergebnisse dieser Analysen für die Verbesserung der Handlungs- und Kooperationskompetenz in den Fachteams zu nutzen. Abgeschlossene, exemplarische Einzelfälle sollen regelmäßig thematisiert und besprochen werden, um daran zu üben!  Damit wird ein vergleichbares Verfahren eingeführt und verstetigt, dass in anderen Schutzdienstinstitutionen (bspw. Brandschutz) längst etabliert und üblich ist, in dem das fachliche Handeln in kritischen Situationen trainiert und verbessert wird. 

Zeitliche Ressourcen sollten dafür zur Verfügung stehen, wenn die personellen Voraussetzungen von 115 % als Basis für eine 100-prozentige Besetzung umgesetzt und verstetigt sind.

 

8.      Raumausstattung und Kundensteuerung

Die sozialen Dienste des Jugendamtes stellen neben der Aufgabenwahrnehmung im Kinderschutz Beratungsdienstleistungen für Familien in Rheine sicher, die Beratungsgespräche, Unterstützungsprozesse und Hilfen in Familien suchen. Für diese Dienstleistungen sind vertrauensgeschützte Beratungssituationen zwingend notwendig, sowie eine transparente und nachvollziehbare Klientensteuerung.

Den Fachkräften der sozialen Dienste stehen grundsätzlich Einzelbüros zur Verfügung.

Auf der Basis der neuen Empfehlungen ist eine gute Grundlage geschaffen, um die Beratungsleistungen des Jugendamtes im Stile einer üblichen Beratungsstelle zu entwickeln, und auch über ein sogenanntes Frontend die Klientensteuerung weiter zu entwickeln.