Beschlussvorschlag/Empfehlung:
Der Jugendhilfeausschuss nimmt
die Ausführungen zu den Auswirkungen des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) auf die
Kindertagesbetreuung zur Kenntnis.
Begründung:
Diese Vorlage knüpft an die bisherige
Berichterstattung in der Vorlage 007/20 an und stellt den aktuellen Sachstand
zur Kenntnisnahme dar.
Historie:
Die
UN-Behindertenrechtskonvention fordert die Staaten auf, die Teilhabe aller
Menschen zu ermöglichen. Für die Umsetzung dieses Ziels wurde in Deutschland
u.a. das Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit
Behinderungen (kurz: Bundesteilhabegesetz, BTHG) entwickelt. Dies ist als
Artikelgesetz verfasst, sodass die vereinbarten Inhalte sukzessive zu
Veränderungen in bestehenden Gesetzen führen.
Seit dem 01.01.2017 wird das
Bundesteilhabegesetz in insgesamt vier Reformstufen umgesetzt. Zum 01.01.2020
wird die dritte Reformstufe, welche die Eingliederungshilfe betrifft, umgesetzt.
Unter die Eingliederungshilfe fällt auch die Betreuung von Kindern mit
Behinderung in der Kindertagesbetreuung.
Im Rahmen der BTHG-Umsetzung sollte besonderes
Augenmerk auf die heilpädagogischen Gruppen und Einrichtungen, in denen
ausschließlich Kinder mit Behinderung betreut werden, gelegt werden. Vor allem
in diesem Kontext muss der Verpflichtungserklärung aus der
UN-Behindertenrechtskonvention Rechnung getragen werden, wonach Menschen mit
Behinderung innerhalb des allgemeinen Bildungssystems zu unterstützen sind und
nicht in exklusiven Einrichtungen ausgeschlossen werden. Dieser
Bildungsanspruch soll nun auch für Kinder mit besonders hohem Teilhabebedarf in
Kindertageseinrichtungen verwirklicht werden. In den heilpädagogischen Gruppen
und Einrichtungen werden in der Regel Kinder mit einem besonders hohen
Teilhabebedarf betreut, welcher durch kleine Gruppensettings, erhöhten
Personalschlüssel oder durch die Anforderungen an ein multiprofessionelles Team
gedeckt werden kann.
In den Verhandlungen zum Landesrahmenvertrag nach §
131 SGB IX wurde deutlich, dass alle Vertragspartner darin bestrebt sind, diese
besonderen Bedarfe grundsätzlich in allen Regelangeboten bedienen zu können.
Dadurch können Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam betreut und gefördert
werden, unabhängig von dem jeweiligen Förderbedarf. Hierzu bedarf es aber
Rahmenbedingungen, die eine bedarfsdeckende Leistungserbringung möglichst im
Lebensumfeld der Kinder sicherstellen. Familienorientierung, Wohnortnähe und
Verzahnung der Teilhabeleistungen nach SGB IX mit den Leistungen des SGB VIII
sind dabei konstitutive Elemente, die besondere Anforderungen an die
Bedarfsfeststellung, Leistungsgewährung und die Leistungserbringung stellen.
Diese
Rahmenbedingungen zu entwickeln und die vorhandenen Systeme in die neue
Ausrichtung zu überführen, muss sorgfältig vorbereitet und begleitet werden.
Auf diesem Weg kann gewährleistet werden, dass es nicht zu einer
Leistungsunterbrechung bzw. zu einem Qualitätsverlust für Kinder mit besonders
hohem Teilhabebedarf kommt.
Im
Landesrahmenvertrag nach § 131 SGB IX haben die Vertragsparteien vereinbart,
die Leistungserbringung in heilpädagogischen Kindertageseinrichtungen zunächst
auf der Basis der bisherigen Regelungen fortzuführen.
Gleichzeitig besteht
die vertraglich vereinbarte Absicht, in einer Arbeitsgruppe der Gemeinsamen
Kommission Regelungen zu vereinbaren, die es ermöglichen, heilpädagogische
Leistungen für Kinder mit erhöhtem Förderbedarf in KiBiz-Einrichtungen
sicherzustellen (evtl. durch eine "gepoolte" Basisleistung II).
Ziel ist, dass der
Umstellungsprozess in KiBiz-finanzierten Einrichtungen bis zum Jahresende 2026
abgeschlossen ist und ab dem 1. August 2027 Wirkung entfaltet. In Einzelfällen
kann die Umstellung um bis zu zwei Jahre verlängert werden.
Auswirkungen auf die kommunale Jugendhilfeplanung:
Im Mai 2022 fand die Kita-Regionalkonferenz statt,
mit folgendem die Weiterentwicklung der Heilpädagogischen Einrichtungen
betreffenden Ergebnis:
-
Alleinige Zuständigkeit der
kommunalen Jugendhilfeplanung
-
Auch die bisherigen HPK-Kinder
erhalten im Rahmen der Jugendhilfeplanung KiBiz-Mittel und ergänzende
EGH-Leistungen. (vergleichbar Basisleistung I)
-
Ggf. kommen weitere Kitas mit
kleineren Gruppen zur möglichst wohnortnahen Betreuung in Betracht.
-
Vereinbarungen zur JA-übergreifenden
Belegung können gemäß KiBiz getroffen werden.
-
Bedarfsgerechte Förderung der Kinder
in den Einrichtungen mit Basisleistung I oder II
Auswirkungen auf die Kitas in Rheine:
Der Bedarf der inklusiven und heilpädagogischen Betreuung ist in
Rheine seit Jahren gleichbleibend hoch.
Die Kinder mit Behinderungen haben dabei ganz unterschiedliche
Diagnosen. Diese reichen von globalen Entwicklungsverzögerungen,
Sprachdefiziten, Schwermehrfachbehinderungen, sozial-emotionalen
Entwicklungsverzögerungen bis hin zu Autismus-Spektrum Störungen. Die damit
verbundenen Bedarfe der Kinder sind ebenso vielfältig und können zum einen mit
zusätzlichen Personalstunden gedeckt werden. In anderen Fällen machen die
Bedarfe der Kinder ein spezielles Setting erforderlich, welches in einer
heilpädagogischen Einrichtung durch kleine Gruppen (max. 8 Kinder) und
festangestellte Therapeuten erfüllt werden kann. Aktuell können trotz dieses
ausdifferenzierten Systems nicht alle Kinder entsprechend ihrer Bedarfe betreut
werden. Zum Teil können Kinder derzeit keine Kindertagesbetreuung angeboten
werden, weil die erheblichen Bedarfe der Kinder mit den vorhandenen Ressourcen
nicht gedeckt werden können.
Der Krieg in der Ukraine stellt die Fachkräfte in den
Kindertageseinrichtungen zudem vor neue Herausforderungen. Viele Kinder sind
psychisch belastet, teilweise traumatisiert und benötigen eine enge Begleitung.
Die Kinder besuchen nun zunehmend die Kindertageseinrichtung und ein Mehrbedarf
dieser Kinder ist vielfach bereits jetzt zu beobachten. Zudem gilt es den
Betreuungsanspruch dieser Kinder auch in den nächsten Jahren gerecht zu werden.
Die Praxis zeigt bereits jetzt, dass Kinder mit erhöhten
Förderbedarfen die heilpädagogische Kita besuchen oder von der inklusiven Kita
in diese wechseln. Dies führt dazu, dass in der heilpädagogischen Kita vermehrt
„nur noch“ Kinder mit erhöhten Förderbedarfen betreut werden. Einige Kinder
können derzeit aufgrund der fehlenden Rahmenbedingungen weder in einem Regel-
noch in einem heilpädagogischen Kindergarten betreut werden.
Es entsteht die Frage, mit welchen personellen, sachlichen und
räumlichen Ressourcen diese Kitas auf Dauer arbeiten werden. Zudem steht die
Frage im Raum, wie mit den hohen Förderbedarfen der Kinder adäquat umgegangen
werden kann.
Aktueller Sachstand und
Ausblick:
Die Überlegungen des Landes,
dass zukünftig alle Kinder (Regelkinder und Kinder mit Behinderungen) im Rahmen
einer Regeleinrichtung betreut und heilpädagogische Einrichtungen langfristig
reduziert werden sollen, erfordern Gelingensbedingungen, die dem Ministerium
für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen
in einem Schreiben vom 29.04.2022 mitgeteilt wurden.
Gemäß § 5 AG-SGB IX arbeiten
die Landschaftsverbände, die Kreise und kreisfreien Städte sowie die
kreisangehörigen Gemeinden mit dem Ziel zusammen, inklusive Sozialräume zu
entwickeln, um inklusive Lebensverhältnisse zu fördern und zu stärken. Nach § 8
AG-SGB XII wirken sie gemeinsam darauf hin, dass die Leistungen sozialräumlich
ausgerichtet sind. Dazu haben die Landschaftsverbände und Kreise und kreisfreie
Städte Kooperationsvereinbarungen abzuschließen, in denen verbindlich lokale
Steuerungs- und Planungsgremien vereinbart werden.
Der LWL teilte in seinem
Rundschreiben vom 04.07.2022 mit, dass im Laufe dieses Jahres ein
entsprechender Aufbau der Gremien der Eingliederungshilfe mit den örtlichen
Jugendhilfeträger erfolgen soll.
Seit geraumer Zeit verhandeln
die beiden Landesjugendämter mit der Freien Wohlfahrt über die
Nachfolgeleistung für die heutigen HPK-Einrichtungen, die sog. Basisleistung
II. Seit Mitte 2021 nehmen auch die Jugendämter vom Kreis Borken und Kreis
Steinfurt an den Verhandlungen teil. Bislang ist noch kein abschließendes Verhandlungsergebnis
erreicht worden.
Am 27.10.2022 hat der Kreis Steinfurt die
Träger und örtlichen Jugendämter zu einem Informationsaustausch eingeladen und
über den aktuellen Stand der Verhandlungen berichtet.
Zum aktuellen Zeitpunkt gibt es noch keine Einigung
und somit auch weiterhin keine Ergebnisse. Am 08.11.2022 findet ein
Spitzengespräch mit dem Landschaftsverband und der Freien Wohlfahrt statt, eine
Beteiligung des Kreises Steinfurt ist nicht vorgesehen.
In dem Austausch wurde deutlich, dass es noch
erhebliche Differenzen und Unklarheiten bei der Umsetzung der Basisleistung II
gibt. Das Kreisjugendamt vertritt den Standpunkt, dass Inklusion umgesetzt
werden solle, jedoch die Qualität und die Bedarfe der Kinder deutlich in den
Blick genommen werden müssen. Die Frage – Was ist uns flächendeckende Inklusion
wert? – gewinnt an Bedeutung.
Folgende Überlegungen sollen voraussichtlich
umgesetzt werden bzw. stehen zur Debatte:
-
Es
werde nicht mehr das Ziel „jedes Kind in
jede Kita“ verfolgt, vielmehr
sollen perspektivisch (wie heute) Kinder mit speziellem Förderbedarf in
bestimmten Kitas betreut werden.
-
Jede
Kommune solle „eine oder mehrere“ Einrichtungen für Kinder mit erhöhtem
Förderbedarf vorhalten = flächendeckende Schwerpunkt-Kitas
-
Die Finanzierung soll im
Rahmen der Jugendhilfeplanung über KiBiz-Mittel und ergänzende EGH-Leistungen
erfolgen.
-
Das
Raumkonzept soll angepasst werden.
-
Mit dem
Modell Gruppenabsenkung wir ein Kind mit Basisleistung
II 3 Plätze
belegen.
Für die Stadt Rheine können nachfolgende
Auswirkungen festgehalten werden:
Aktuell belegen 42 Kinder aus Rheine einen
heilpädagogischen Platz, davon kommen 6 Kinder aus angrenzenden Kommunen, 1
weiteres Kind aus Rheine soll zeitnah aufgenommen werden.
48 Kinder x 3 Belegplätze = 144 Plätze entspricht
einem Mehrbedarf von 96 Plätzen.
Aufgrund der flächendeckenden Einrichtung
kommen auch weitere Kinder aus den angrenzenden Kommunen dazu.
Ebenso zu berücksichtigen sind die Kinder,
die aktuell auf der Warteliste beim Dreikönigskindergarten stehen (z. Z. 8
Kinder) sowie die Kinder, die aktuell mit einem erhöhten Bedarf (z.T.
Basisleistung I + individuelle Leistungen) in einer Regeleinrichtung betreut
werden, aber zu dem Personenkreis gehören, Basisleistung II in Anspruch nehmen
zu können. Weiterhin ist die Dunkelziffer hoch, da einige
Kindertageseinrichtungen aufgrund von Personalmangel derzeit keinen Antrag auf
inklusive Förderung stellen.
Fazit: Die Stadt Rheine müsste allein bei
Basisleistung II aktuell 96 Plätze mehr zur Verfügung stellen.
Noch nicht berücksichtigt sind die Kinder,
die aktuell Basisleistung I erhalten und bei dem Modell Gruppenabsenkung 2
Plätze belegen würden.
Zudem ist noch eine
Summe x erforderlich (Warteliste + Dunkelziffer an Förderbedarf, die nicht
beantragt wurden). Hier wäre eine Bedarfsabfrage bei den einzelnen Träger
denkbar.
In der Summierung bedeutet dieses, dass mindesten 150-200 zusätzliche Plätze geschaffen werden müssen.
Anlage:
Schreiben an das Ministerium: Gelingensbedingungen