Betreff
Auswirkungen des BTHG auf die Kindertagesbetreuung
Vorlage
447/22
Art
Beschlussvorlage

Beschlussvorschlag/Empfehlung:

 

Der Jugendhilfeausschuss nimmt die Ausführungen zu den Auswirkungen des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) auf die Kindertagesbetreuung zur Kenntnis.

 


Begründung:

 

Diese Vorlage knüpft an die bisherige Berichterstattung in der Vorlage 007/20 an und stellt den aktuellen Sachstand zur Kenntnisnahme dar.

 

 

Historie:

Die UN-Behindertenrechtskonvention fordert die Staaten auf, die Teilhabe aller Menschen zu ermöglichen. Für die Umsetzung dieses Ziels wurde in Deutschland u.a. das Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (kurz: Bundesteilhabegesetz, BTHG) entwickelt. Dies ist als Artikelgesetz verfasst, sodass die vereinbarten Inhalte sukzessive zu Veränderungen in bestehenden Gesetzen führen.

Seit dem 01.01.2017 wird das Bundesteilhabegesetz in insgesamt vier Reformstufen umgesetzt. Zum 01.01.2020 wird die dritte Reformstufe, welche die Eingliederungshilfe betrifft, umgesetzt. Unter die Eingliederungshilfe fällt auch die Betreuung von Kindern mit Behinderung in der Kindertagesbetreuung.

Im Rahmen der BTHG-Umsetzung sollte besonderes Augenmerk auf die heilpädagogischen Gruppen und Einrichtungen, in denen ausschließlich Kinder mit Behinderung betreut werden, gelegt werden. Vor allem in diesem Kontext muss der Verpflichtungserklärung aus der UN-Behindertenrechtskonvention Rechnung getragen werden, wonach Menschen mit Behinderung innerhalb des allgemeinen Bildungssystems zu unterstützen sind und nicht in exklusiven Einrichtungen ausgeschlossen werden. Dieser Bildungsanspruch soll nun auch für Kinder mit besonders hohem Teilhabebedarf in Kindertageseinrichtungen verwirklicht werden. In den heilpädagogischen Gruppen und Einrichtungen werden in der Regel Kinder mit einem besonders hohen Teilhabebedarf betreut, welcher durch kleine Gruppensettings, erhöhten Personalschlüssel oder durch die Anforderungen an ein multiprofessionelles Team gedeckt werden kann.

In den Verhandlungen zum Landesrahmenvertrag nach § 131 SGB IX wurde deutlich, dass alle Vertragspartner darin bestrebt sind, diese besonderen Bedarfe grundsätzlich in allen Regelangeboten bedienen zu können. Dadurch können Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam betreut und gefördert werden, unabhängig von dem jeweiligen Förderbedarf. Hierzu bedarf es aber Rahmenbedingungen, die eine bedarfsdeckende Leistungserbringung möglichst im Lebensumfeld der Kinder sicherstellen. Familienorientierung, Wohnortnähe und Verzahnung der Teilhabeleistungen nach SGB IX mit den Leistungen des SGB VIII sind dabei konstitutive Elemente, die besondere Anforderungen an die Bedarfsfeststellung, Leistungsgewährung und die Leistungserbringung stellen.

Diese Rahmenbedingungen zu entwickeln und die vorhandenen Systeme in die neue Ausrichtung zu überführen, muss sorgfältig vorbereitet und begleitet werden. Auf diesem Weg kann gewährleistet werden, dass es nicht zu einer Leistungsunterbrechung bzw. zu einem Qualitätsverlust für Kinder mit besonders hohem Teilhabebedarf kommt.

Im Landesrahmenvertrag nach § 131 SGB IX haben die Vertragsparteien vereinbart, die Leistungserbringung in heilpädagogischen Kindertageseinrichtungen zunächst auf der Basis der bisherigen Regelungen fortzuführen.

Gleichzeitig besteht die vertraglich vereinbarte Absicht, in einer Arbeitsgruppe der Gemeinsamen Kommission Regelungen zu vereinbaren, die es ermöglichen, heilpädagogische Leistungen für Kinder mit erhöhtem Förderbedarf in KiBiz-Einrichtungen sicherzustellen (evtl. durch eine "gepoolte" Basisleistung II).

Ziel ist, dass der Umstellungsprozess in KiBiz-finanzierten Einrichtungen bis zum Jahresende 2026 abgeschlossen ist und ab dem 1. August 2027 Wirkung entfaltet. In Einzelfällen kann die Umstellung um bis zu zwei Jahre verlängert werden.

 

Auswirkungen auf die kommunale Jugendhilfeplanung:

Im Mai 2022 fand die Kita-Regionalkonferenz statt, mit folgendem die Weiterentwicklung der Heilpädagogischen Einrichtungen betreffenden Ergebnis:

-          Alleinige Zuständigkeit der kommunalen Jugendhilfeplanung

-          Auch die bisherigen HPK-Kinder erhalten im Rahmen der Jugendhilfeplanung KiBiz-Mittel und ergänzende EGH-Leistungen. (vergleichbar Basisleistung I)

-          Ggf. kommen weitere Kitas mit kleineren Gruppen zur möglichst wohnortnahen Betreuung in Betracht.

-          Vereinbarungen zur JA-übergreifenden Belegung können gemäß KiBiz getroffen werden.

-          Bedarfsgerechte Förderung der Kinder in den Einrichtungen mit Basisleistung I oder II

 

Auswirkungen auf die Kitas in Rheine:

Der Bedarf der inklusiven und heilpädagogischen Betreuung ist in Rheine seit Jahren gleichbleibend hoch. 

Die Kinder mit Behinderungen haben dabei ganz unterschiedliche Diagnosen. Diese reichen von globalen Entwicklungsverzögerungen, Sprachdefiziten, Schwermehrfachbehinderungen, sozial-emotionalen Entwicklungsverzögerungen bis hin zu Autismus-Spektrum Störungen. Die damit verbundenen Bedarfe der Kinder sind ebenso vielfältig und können zum einen mit zusätzlichen Personalstunden gedeckt werden. In anderen Fällen machen die Bedarfe der Kinder ein spezielles Setting erforderlich, welches in einer heilpädagogischen Einrichtung durch kleine Gruppen (max. 8 Kinder) und festangestellte Therapeuten erfüllt werden kann. Aktuell können trotz dieses ausdifferenzierten Systems nicht alle Kinder entsprechend ihrer Bedarfe betreut werden. Zum Teil können Kinder derzeit keine Kindertagesbetreuung angeboten werden, weil die erheblichen Bedarfe der Kinder mit den vorhandenen Ressourcen nicht gedeckt werden können.

Der Krieg in der Ukraine stellt die Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen zudem vor neue Herausforderungen. Viele Kinder sind psychisch belastet, teilweise traumatisiert und benötigen eine enge Begleitung. Die Kinder besuchen nun zunehmend die Kindertageseinrichtung und ein Mehrbedarf dieser Kinder ist vielfach bereits jetzt zu beobachten. Zudem gilt es den Betreuungsanspruch dieser Kinder auch in den nächsten Jahren gerecht zu werden.

Die Praxis zeigt bereits jetzt, dass Kinder mit erhöhten Förderbedarfen die heilpädagogische Kita besuchen oder von der inklusiven Kita in diese wechseln. Dies führt dazu, dass in der heilpädagogischen Kita vermehrt „nur noch“ Kinder mit erhöhten Förderbedarfen betreut werden. Einige Kinder können derzeit aufgrund der fehlenden Rahmenbedingungen weder in einem Regel- noch in einem heilpädagogischen Kindergarten betreut werden.

Es entsteht die Frage, mit welchen personellen, sachlichen und räumlichen Ressourcen diese Kitas auf Dauer arbeiten werden. Zudem steht die Frage im Raum, wie mit den hohen Förderbedarfen der Kinder adäquat umgegangen werden kann.

Aktueller Sachstand und Ausblick:

Die Überlegungen des Landes, dass zukünftig alle Kinder (Regelkinder und Kinder mit Behinderungen) im Rahmen einer Regeleinrichtung betreut und heilpädagogische Einrichtungen langfristig reduziert werden sollen, erfordern Gelingensbedingungen, die dem Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen in einem Schreiben vom 29.04.2022 mitgeteilt wurden.

Gemäß § 5 AG-SGB IX arbeiten die Landschaftsverbände, die Kreise und kreisfreien Städte sowie die kreisangehörigen Gemeinden mit dem Ziel zusammen, inklusive Sozialräume zu entwickeln, um inklusive Lebensverhältnisse zu fördern und zu stärken. Nach § 8 AG-SGB XII wirken sie gemeinsam darauf hin, dass die Leistungen sozialräumlich ausgerichtet sind. Dazu haben die Landschaftsverbände und Kreise und kreisfreie Städte Kooperationsvereinbarungen abzuschließen, in denen verbindlich lokale Steuerungs- und Planungsgremien vereinbart werden.

Der LWL teilte in seinem Rundschreiben vom 04.07.2022 mit, dass im Laufe dieses Jahres ein entsprechender Aufbau der Gremien der Eingliederungshilfe mit den örtlichen Jugendhilfeträger erfolgen soll.

Seit geraumer Zeit verhandeln die beiden Landesjugendämter mit der Freien Wohlfahrt über die Nachfolgeleistung für die heutigen HPK-Einrichtungen, die sog. Basisleistung II. Seit Mitte 2021 nehmen auch die Jugendämter vom Kreis Borken und Kreis Steinfurt an den Verhandlungen teil. Bislang ist noch kein abschließendes Verhandlungsergebnis erreicht worden.

Am 27.10.2022 hat der Kreis Steinfurt die Träger und örtlichen Jugendämter zu einem Informationsaustausch eingeladen und über den aktuellen Stand der Verhandlungen berichtet.

Zum aktuellen Zeitpunkt gibt es noch keine Einigung und somit auch weiterhin keine Ergebnisse. Am 08.11.2022 findet ein Spitzengespräch mit dem Landschaftsverband und der Freien Wohlfahrt statt, eine Beteiligung des Kreises Steinfurt ist nicht vorgesehen.

In dem Austausch wurde deutlich, dass es noch erhebliche Differenzen und Unklarheiten bei der Umsetzung der Basisleistung II gibt. Das Kreisjugendamt vertritt den Standpunkt, dass Inklusion umgesetzt werden solle, jedoch die Qualität und die Bedarfe der Kinder deutlich in den Blick genommen werden müssen. Die Frage – Was ist uns flächendeckende Inklusion wert? – gewinnt an Bedeutung.

Folgende Überlegungen sollen voraussichtlich umgesetzt werden bzw. stehen zur Debatte:

-          Es werde nicht mehr das Ziel „jedes Kind in jede Kita“ verfolgt, vielmehr sollen perspektivisch (wie heute) Kinder mit speziellem Förderbedarf in bestimmten Kitas betreut werden.

-          Jede Kommune solle „eine oder mehrere“ Einrichtungen für Kinder mit erhöhtem Förderbedarf vorhalten = flächendeckende Schwerpunkt-Kitas

-          Die Finanzierung soll im Rahmen der Jugendhilfeplanung über KiBiz-Mittel und ergänzende EGH-Leistungen erfolgen.

-          Das Raumkonzept soll angepasst werden.

-          Mit dem Modell Gruppenabsenkung wir ein Kind mit Basisleistung II 3 Plätze belegen.

Für die Stadt Rheine können nachfolgende Auswirkungen festgehalten werden:

Aktuell belegen 42 Kinder aus Rheine einen heilpädagogischen Platz, davon kommen 6 Kinder aus angrenzenden Kommunen, 1 weiteres Kind aus Rheine soll zeitnah aufgenommen werden.

48 Kinder x 3 Belegplätze = 144 Plätze entspricht einem Mehrbedarf von 96 Plätzen.

Aufgrund der flächendeckenden Einrichtung kommen auch weitere Kinder aus den angrenzenden Kommunen dazu.

Ebenso zu berücksichtigen sind die Kinder, die aktuell auf der Warteliste beim Dreikönigskindergarten stehen (z. Z. 8 Kinder) sowie die Kinder, die aktuell mit einem erhöhten Bedarf (z.T. Basisleistung I + individuelle Leistungen) in einer Regeleinrichtung betreut werden, aber zu dem Personenkreis gehören, Basisleistung II in Anspruch nehmen zu können. Weiterhin ist die Dunkelziffer hoch, da einige Kindertageseinrichtungen aufgrund von Personalmangel derzeit keinen Antrag auf inklusive Förderung stellen.

Fazit: Die Stadt Rheine müsste allein bei Basisleistung II aktuell 96 Plätze mehr zur Verfügung stellen.

Noch nicht berücksichtigt sind die Kinder, die aktuell Basisleistung I erhalten und bei dem Modell Gruppenabsenkung 2 Plätze belegen würden.

Zudem ist noch eine Summe x erforderlich (Warteliste + Dunkelziffer an Förderbedarf, die nicht beantragt wurden). Hier wäre eine Bedarfsabfrage bei den einzelnen Träger denkbar.

In der Summierung bedeutet dieses, dass mindesten 150-200 zusätzliche Plätze geschaffen werden müssen.


Anlage:

Schreiben an das Ministerium: Gelingensbedingungen