Betreff
Vorstellung der neuen Stelle der Verfahrenslotsen nach §10b SGB VIII. Ein Beratungsangebot für Kinder und Jugendliche mit (drohender) Behinderung
Vorlage
433/23
Art
Beschlussvorlage

Beschlussvorschlag/Empfehlung:

Der Jugendhilfeausschuss nimmt die Vorstellung des Arbeitsbereiches der Stelle der Verfahrenslotsin nach §10b SGB VIII zur Kenntnis.

 

 


Begründung:

Einführung

Am 10. Juni 2021 trat das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) in Kraft. Ziel ist es unteranderem, Hilfen aus einer Hand für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderungen zu gewähren.

Die bisherige Aufteilung der Eingliederungshilfe in Leistungen nach dem SGB IX und SGB VIII, in Verbindung mit unterschiedlichen Zuständigkeiten für Leistungen, stellt besonders Eltern vor große Schwierigkeiten. Ob ein Antrag auf Hilfe beim LWL, beim Sozialamt oder beim Jugendamt zu stellen ist, hängt immer vom Alter des Kindes und der vorliegenden Beeinträchtigung ab. Da besonders die Beeinträchtigung nicht immer klar abgrenzend definiert werden kann, geraten Hilfesuchende schnell in einen Dschungel von unterschiedlichen Zuständigkeiten, Fristen, Begutachtungen und Hürden bis zur Hilfegewährung.

 

Die Reformstufen des Kinder- und Jugendstärkungsgesetz sollen diese Situation verändern und „eine Verankerung der Inklusion als Leitgedanken der Kinder- und Jugendhilfe“ erreichen.“[1]

Zum 01.01.2024 tritt die nächste Reformstufe des KJSG in Kraft und führt damit die Tätigkeit von Verfahrenslotsen nach §10b SGB VIII ein. Da zum 01.01.2028 die nächste Reformstufe, die Überführung der SGB IX Leistungen der Eingliederungshilfe in das SGB VIII ansteht, ist die Tätigkeit der Verfahrenslotsen bisher bis zum 01.01.2028 befristet[2].

 

Die Aufgabe der Verfahrenslotsen gliedert sich in zwei Bereiche:

1.      Die Begleitung und Unterstützung von Kindern und Jugendlichen mit (drohender) Behinderung, um ihnen zu Leistungen der Eingliederungshilfe zu verhelfen.

§10b Abs. 1 SGB VIII

Junge Menschen, die Leistungen der Eingliederungshilfe wegen einer Behinderung oder wegen einer drohenden Behinderung geltend machen oder bei denen solche Leistungsansprüche in Betracht kommen, sowie ihre Mütter, Väter, Personensorge- und Erziehungsberechtigten haben bei der Antragstellung, Verfolgung und Wahrnehmung dieser Leistungen Anspruch auf Unterstützung und Begleitung durch einen Verfahrenslotsen. Der Verfahrenslotse soll die Leistungsberechtigten bei der Verwirklichung von Ansprüchen auf Leistungen der Eingliederungshilfe unabhängig unterstützen sowie auf die Inanspruchnahme von Rechten hinwirken. Diese Leistung wird durch den örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe erbracht.

2.      Unterstützung des Jugendamtes bei der Zusammenführung der Eingliederungshilfe in deren Zuständigkeit

§10b Abs. 2 SGB VIII

Der Verfahrenslotse unterstützt den örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe bei der Zusammenführung der Leistungen der Eingliederungshilfe für junge Menschen in dessen Zuständigkeit. Hierzu berichtet er gegenüber dem örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe halbjährlich insbesondere über Erfahrungen der strukturellen Zusammenarbeit mit anderen Stellen und öffentlichen Einrichtungen, insbesondere mit anderen Rehabilitationsträgern.

 

Ziel der Verfahrenslotsen

Der Gesetzgeber möchte mit der verpflichtenden Stelle der Verfahrenslotsen bundesweit eine personelle Ressource im Jugendamt schaffen, um die oft schon sehr belasteten Familien mit einem Kind mit Behinderung zu unterstützen und auf die Inanspruchnahme von Eingliederungshilfe hinzuwirken.

Zudem kann der Verfahrenslotse durch die Begleitung von konkreten Einzelfällen und der Zusammenarbeit mit wesentlichen Akteuren der Eingliederungshilfe, Erfahrungen sammeln und somit Hürden, Herausforderungen und Hemmnisse der Inanspruchnahme von Leistungen aufzeigen, um dann in der strukturellen Zusammenführung der Leistungen im Jugendamt eine beratende Rolle einzunehmen. 

 

Profil und Aufgaben der Verfahrenslotsen

o   Unabhängigkeit:

Die Verfahrenslotsen agieren im Interesse der Kinder und Jugendlichen und sind damit in ihrer Beratung nicht weisungsgebunden.

o   Freiwilligkeit:

Die Begleitung und Unterstützung der Verfahrenslotsen erfolgt auf Wunsch der Betroffenen und ist freiwillig und kostenlos.

o   Niederschwelligkeit:

Die Beratung kann zu jedem Zeitpunkt in Anspruch genommen werden. Vor der Hilfe, wo und wie eine Diagnose gestellt werden kann, über die Antragsstellung selber, bis zum Widerspruchsverfahren, können die Verfahrenslotsen unterstützen und begleiten.

o   Interessensvertretung:

Die Verfahrenslotsen verstehen sich als Interessensvertretung der Kinder und Jugendlichen mit Behinderung.

o   Netzwerk und Kooperation:

Die örtlichen Leistungserbringer und Beratungsmöglichkeiten werden erkannt und ein enger Kontakt der Zusammenarbeit wird hergestellt. 

o   Abgrenzung zur Rechtsberatung:

Keine Vertretung der Klienten, keine selbstständige Akteneinsicht, keine dezidierte Rechtsberatung, keine eigene Stellungnahme, z.B. im Widerspruchsverfahren, sondern nur eine Unterstützung der Klienten wie ein Widerspruch zu gestalten ist.

o   Halbjährliche Berichterstattung gegenüber dem Jugendhilfeausschuss:

Inhalte des Berichts können die Erfahrungen der strukturellen Zusammenarbeit mit anderen Akteuren sein, die Anlässe der Beratungen und aufkommende Hürden und Hemmnisse der Leistungsannahme.[3]

 

In der Fachdiskussion wird die Einführung der Verfahrenslotsen nach §10b SGB VIII kontrovers thematisiert. Besonders das sehr umfassende und nicht abschließende Aufgabenportfolio, sowie die Befristung der Stelle bis 2028 stellt eine Herausforderung dar. Zum einen sind sowohl die persönlichen und fachlichen Kompetenzen der Verfahrenslotsen sehr offen formuliert, als auch die strukturelle Anordnung im Jugendamt und der Stellenumfang, nicht näher beschrieben. Ein einheitliches Curriculum zur Zertifizierung der Verfahrenslotsen ist derzeit in der Endphase der Entwicklung, jedoch ohne Klarheit einer zukünftigen Verbindlichkeit. Die flächendeckende Einführung der Verfahrenslotsen wird somit bundesweit sehr heterogen ausgestaltet sein.

Als Gewinn wird die Entlastung von Familien gesehen, da sie durch den Verfahrenslotsen eine Orientierung im Leistungssystem erhalten. Zudem sind durch die halbjährlichen Berichterstattungen vorhandene Hürden und Hemmschwellen sichtbarer und ermöglichen den Jugendämtern Steuerungschancen.

 

Umsetzung in Rheine

Die Stadt Rheine hat im Juni 2023 die Stelle der Verfahrenslotsen intern ausgeschrieben und zum 01.09.2023 mit Frau Althaus als Sozialarbeiterin unbefristet besetzt.

Als Verfahrenslotsin ist sie mit einem Stundenumfang von 19,5 Wochenstunden tätig. Angesiedelt ist die Stelle im Jugendamt als Teil der sozialen Dienste unter der Produktverantwortlichkeit von Herrn Röwer, der auch andere Bereiche der sozialen Dienste leitet.

 

Erste Handlungsschritte in Rheine

In der Entwicklung der neuen Stelle der Verfahrenslotsen sind bisher folgende Bereiche fokussiert worden:

1.      Fortbildungen: Teilnahme an Online-Fortbildungsreihen des DIJuF und der Organisation zur Umsetzungsplanung des BTHG´s

2.      Interne Kooperation: Vorstellungsrunden in den Teams des Jugendamtes (noch nicht abgeschlossen), fachliche Einarbeitung in die internen Abläufe und Schnittstellen

3.      Externe Kooperation: Erste Vorstellungsrunden zu externen Kooperationspartnern, wie der Caritas Beratungsstelle für Menschen mit Behinderungen, der Agentur für Arbeit, der Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung, Vernetzung mit Verfahrenslotsen im Kreis Steinfurt (weitere Termine folgen)

4.      Fallarbeit: Erste Begleitung und Unterstützung von Eltern mit Kindern mit Behinderung

5.      Dokumentation: Entwicklung von Dokumentationsmöglichkeiten der Fallarbeit, aber auch der strukturellen Hürden

6.      Öffentlichkeitsarbeit: Erstellung eines Flyers, Vorstellung auf der Homepage der Stadt Rheine, Vorstellung im Jugendhilfeausschuss

 

In der Ausschusssitzung am 16.11.2023 erfolgt eine mündliche Vorstellung der Stelle der Verfahrenslotsin in Rheine.

 

 

 

 



[1] BMFSFJ. (2023) Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz - KJSG). https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/gesetze/neues-kinder-und-jugendstaerkungsgesetz-162860 (Zugriff 11.10.2023)

[3] DIJuF. (2022). Positionspapier zum Verfahrenslotsen – nach §10b SGB VIII. https://dijuf.de/fileadmin/Redaktion/Handlungsfelder/KJSG/Positionspapier_Verfahrenslotse_2022-09-14.pdf (Zugriff 11.10.2023)